Slab-Technik und Drehscheibe – zwei Wege durch die Geschichte der Keramik

Keramik hat unzählige Gesichter – von feinstem Teegeschirr bis massive Amphore, von erdigen Tönen hin zu Neon, von Ostasien über Südamerika bis Schottland. Einen  großen Teil dessen, was wir über vergangene Gesellschaften wissen – über ihre Rituale, ihr Alltagsleben, ihre Ästhetik – verdanken wir Keramikfragmenten, die über Jahrtausende erhalten geblieben sind. Keramik und Menschheit sind kulturhistorisch kaum voneinander zu trennen.

Inka-Gefäß mit zwei Figuren, die Keulen und Boleadoras zum Jagen tragen, flankiert von drei Vierbeinern, bei denen es sich um Lamas handeln könnte. 1400–1533 n. Chr. Provenienz: Departamento Cusco, Peru. Museum of the Americas. Foto: Dorieo

Germanische Urne aus dem Gräberfeld von Körchow 1.-2. Jhdt., Exponat in der Ausstellung „Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung“, Archäologischen Landesmuseum des Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege Schwerin. Foto: James Steakly. 

Zwei Fertigungstechniken ziehen sich dabei bis heute durch die Geschichte und über die Kontinente: die aufbauende Slab-Technik, bei der Objekte aus Tonplatten aufgebaut und modelliert werden, und das Drehen auf der Töpferscheibe, bei dem Ton in Rotation geformt wird. Beides sind Verfahren mit jahrtausendealter Tradition – und zugleich zwei unterschiedliche Herangehensweise an Material und Form.

Die Slab-Technik: Keramik als aufgebaute Form

Die Slab-Technik ist eine der ältesten keramischen Methoden überhaupt. Lange bevor die Drehscheibe erfunden wurde, bauten Menschen Gefäße und Figuren aus ausgerollten Tonplatten, die zu Körpern geformt und zusammengefügt wurden. Schon im 6. Jahrtausend v. Chr. finden sich Spuren dieser Technik – im Nahen Osten, in Ostasien, in frühen europäischen Siedlungen.

Alice del Ferraro arbeitet mit der aufbauenden Technik an einem skulpturalen Gefäss. Dabei ist sie frei in der Gestaltung der Formen und Proportionen, da sie den Ton frei modellieren kann.

Da die Keramik-Künstler:innen an einem statischen Objekt arbeiten, das sich nicht bewegt, sind der Formgebung keine Grenzen gesetzt: Asymmetrien, mal dick mal dünn, Einbuchtungen, Ausbeulungen, aufgesetzte Kugeln, Hohlräume – mit der Slab-Technik werden Objekte wie Skulpturen aufgebaut.

Die Drehscheibe: Keramik als Geste in Rotation

Um ca. 3500–3000 v. Chr. taucht in Mesopotamien und Ägypten die Töpferscheibe auf – ein Werkzeug, das die Keramik grundlegend verändert. Aus einer Tonkugel entsteht durch  Rotation und das Formen mit den Händen und Werkzeugen langsam ein Gefäß: die Technik erlaubt die Herstellung symmetrischer und dünnwandiger Objekte. Im Gegensatz zur Slab-Technik ist die Geste rhythmisch und folgt einer gewissen Choreografie.

Martina Geroni arbeitet an einem Steingut-Gefäss auf der Drehscheibe. Durch die rotierende Bewegung werden die Objekte symmetrisch und können besonders dünnwanding gefertigt werden. Foto: Federica Cocciro

Drehen ist eine körperliche Technik. Sie lebt davon, dass sich die Hände, das Material und die Geschwindigkeit der Drehscheibe in einer gemeinsamen Bewegung treffen. Seit der Bronzezeit begleitet diese Logik die Keramikgeschichte parallel zur aufbauenden Technik durch alle Kulturen.

Martina Geroni | Drehen als architektonisches Ritual

Die italienische Künstlerin Martina Geroni führt das Drehen in eine eigene Sprache: klar, ruhig, strukturiert – mit einer Sensibilität, die aus ihrem Hintergrund in Architektur erwächst. Ihre Objekte entstehen auf der Drehscheibe, und zusammen mit den Objekten aus den jeweiligen Kollektionen wirken sie wie Raumkonzepte: modular, kombinierbar, erzählerisch.

"Mein liebster Moment im künstlerischen Prozess ist jedes Mal, wenn ich mich an die Drehscheibe setze: In diesem Moment muss ich vollkommen zentriert sein – körperlich, geistig, emotional. Ton ist ein sensibles, fast lebendiges Material. Dann kommen Körper und Geist in Einklang und beginnen einen rituellen Prozess." - Martina Geroni. Foto: Federica Cocciro

Wenn Martina an der Scheibe sitzt, beginnt ein ritueller Prozess. Körper, Material und Fokus müssen sich ausbalancieren; der Ton reagiert sofort auf jede innere und äußere Bewegung. So lässt sie Objekte entsehen, die gleichzeitig streng und weich sind: klare Linien, zarte Pastelltöne, harmonische Übergänge, organische Symmetrie.

Für Martina ist die Die Drehscheibe nicht nur Werkzeug, sondern ein Denkraum – ein Ort, an dem Ideen, Orte, Erinnerungen und kulturelle Bezüge in Ton übergehen.

Charakteristisch für Martinas Arbeiten ist ein formklares und modulares Prinzip: Jedes Objekt steht für sich – und ist gleichzeitig Teil eines größeren Zusammenhangs. So lassen sich ihre Stücke zu kleinen Skulpturen arrangieren - das ist nur möglich, da die Stücke auf der Drehscheibe zu smoothen und symmetrischen Teilen werden.

 Alice del Ferraro | Slab-Technik als Experiment mit Farbe und Bewegung

Bei Alice del Ferraro aus Rom zeigt sich Keramik von einer vollkommen anderen Seite. Ihre mit der Slab-Technik gefertigten Werke wirken plastisch, impulsiv, farbintensiv. Alice beginnt mit einem Plan, einer Skizze, einer Idee. Doch während sie die Tonplatten ausrollt, schneidet, biegt, faltet, verbindet, beginnt der Ton mitzudenken. Ihre Formen wirken nicht gebaut, sondern entdeckt – voller Bewegung, inspiriert von Natur, Körperlichkeit und intuitiven Gesten.

Alice arbeitet mit der Slab-Technik an der einen Vorderseite eines Kerzenhalters. Durch die aufbauende, modellierende Vorgehensweise können grosse Hohlräume in der Mitte geschaffen werden, die auf der Drehscheibe nicht realisierbar wären. 

In der Farbgebund folgt Alice dann der Form der Slab-Objekte und lässt sie mitbestimmen. Ihre Arbeitsweise ist ein Dialog zwischen Struktur und Spontaneität, strukturellen Anforderungen und der Lust, diese herauszufordern.

Kerzenhalter DIP IN THE SEA Vorderansicht,  handgefertigtes Keramikobjekt von Alice Del FerraroDie organische, nicht ganz einheitliche Form der Kerzenhalter ist auf die Slab-Technik zurückzuführen - und macht den besonderen Charme der aufgebauten Werke aus. Jedes unterschiedet sich, da die Form jedes Mal von Null auf modelliert wird. 

Zwei Techniken, zwei Philosophien – und ein gemeinsames Material

Trotz ihrer Unterschiede teilen die Slab-Technik und das Drehen einen gemeinsamen Kern: den Ton – ein Material, das seit Jahrtausenden geformt wird und dessen Gestaltungsspielraum von skulptural bis funktional reicht. Beide Verfahren verwandeln weiche, nahezu formlose Masse durch handwerkliche Präzision, Trocknung, Brennen und Glasur in langlebige Objekte, die Generationen überdauern können.

Bei der gedrehten Kollektion ROSA MORADA von Martina Geroni lassen sich alle einzelnen Komponenten wie Teller und Schalen auf verschiedene Arten stapeln und kombinieren. Zudem hat jedes Stück gleich mehrere Anwednungen: ein Teller wird zum Tischset, eine Schale zur Kuchenplatte. 

Die Kuchenplatte POP DOTS von Alice del Ferraro ist mit der Slab-Technik gefertigt: die Fläche besteht aus einer ausgerollten, zugeschnittenen und von Hand geformten Tonplatte; die Schlaufenfüße aus gerollten Tonsträngen.


Genau diese Beständigkeit macht Keramik zu einem der wichtigsten Zeugnisse menschlicher Kulturgeschichte. Ob gedreht wie bei Martina Geroni oder aufgebaut wie bei Alice del Ferraro: Beide Herangehensweisen zeigen, wie vielseitig Ton als Material ist – und wie stark persönliche, philosophische und kulturelle Ansätze seine Form präg(t)en. Ihre Objekte stehen exemplarisch dafür, wie zeitgenössische Keramik zwischen Kunst, Design und Handwerk neue Wege mit alter Tradition findet und warum unsere Alltagsformen so vielfältig, farbig und individuell sein können.

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Quellen: 

"Meaning in the making: The potter’s wheel at Phylakopi, Melos (Greece)", Ina Berg, Journal of Anthropological Archaeology, Volume 26, Issue 2, 2007

"Zerbrechliche Geschichten: Die Entwicklung der Keramik.", Museumslandschaft Hessen Kassel (Hrsg.),  Böhlau Verlag, 2022